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Yi Cheong-Jun Die Gerüchtemauer
Aus dem Koreanischen von Oh Soon-Hee und Birgit Mersmann. Thunum (Edition Peperkorn) 2005
Zwei Kondensatorplatten. Steckverbindungen. Ein elektrisches Feld. Aus der Feder von Yi Cheong-Jun stammen einerseits traditionelle Stoffe und Bearbeitungen, so seine überaus beliebten Versionen altkoreanischer Volksmärchen, und andererseits engagierte und überaus luzide Diagnosen der gegenwärtigen südkoreanischen Gesellschaft. Birgit Mersmann und Oh Soon-Hee haben Querbezüge zwischen diesen Produktionssträngen des Autors entdeckt und sich durch dessen multiple Qualität zu einem Projekt anregen lassen, welches zu den intelligentesten koreabezogenen Publikationen dieses Jahres gezählt werden darf. Der Band enthält zwei Erzählungen, die auf den ersten Blick gänzlich unterschiedlichen Welten zu entstammen scheinen. In „Die Gerüchtemauer“ geht es um das Schicksal eines Schriftstellers im Literaturbetrieb der 1970er Jahre. Die Erzählung „Sŏp’yŏnje“ hingegen, die durch die Verfilmung des südkoreanischen Regisseurs Im Kwon-Taek (1993) auch im Ausland bekannt wurde, schildert das Schicksal einer Sängerfamilie in der traditionellen Gesellschaft des äußersten Südens. Zur zentralen Chiffre beider Erzählungen wird die Erfahrung des Lichts: gleißendes, schmerzhaftes, unerträgliches Licht. - Der seit einiger Zeit nicht mehr publizistisch in Erscheinung getretene Schriftsteller Park Chun hat sich in psychiatrische Behandlung begeben. Diagnostiziert wird eine „Aussagephobie“. Simuliert er? Zwischen dem behandelnden Arzt und einem Zeitschriftenredakteur kommt es zu einem investigativen Duell. Der Psychiater setzt auf Gespräche, der Redakteur auf die Lektüre der Werke des Autors, um dessen Geheimnis zu lüften. Diese Erzählungen, die den Redakteur Stück für Stück an die Wahrheit heranführen, gipfeln in der Schilderung einer Kindheitsszene, als seine Mutter eines Nachts im gleißenden Strahl einer Taschenlampe von einem Bewaffneten, dessen Uniform sie nicht erkennen kann, ausgefragt wird. Es ist, als würden sich die Erzählungen Park Chuns fortwährend an der Erfahrung dieses Lichts abarbeiten, eines Lichts, das bereits alles entschieden hat und das die Aussage, die er selbst machen möchte, verhindert. Yis Erzählung erschien 1972 und lässt sich gewiss als schneidende Kritik an den damaligen Dispositiven der Macht, an Psychiatrie und Literaturbetrieb lesen. Aber ist sie allein das? „Sŏp’yŏnje Stimme des Westens“ schildert das Schicksal einer Sori-Familie und gibt Einblick in die Welt des P’ansori, des traditionellen koreanischen Gesangs. Im Zentrum dieser Erzähltrilogie steht das schmerzhafte Verhältnis zweier Halbgeschwister. Die Mutter des Jungen hatte einen Sori-Sänger kennen gelernt und war bei der Geburt der Tochter gestorben. Der Junge hasst diesen Sänger. Doch der glühende Sonnenball, der in diesen Momenten über seinem Kopf brennt, stellt das „wahre Gesicht des Gesangs“ dar, das er immer gesucht hatte. Seine Mordlust wird von diesem Gleisen begleitet und zugleich in Schach gehalten. Die Tochter wird von ihrem Vater zur Sängerin ausgebildet und geblendet. Man sagte, er habe das getan, weil eine Sori-Sängerin einen unaussprechlichen Schmerz in der Brust fühlen müsse... Nach Jahren kommt es zu einer Wiederbegegnung der Geschwister. Die Schwester singt die ganze Nacht, vom Bruder mit der Trommel begleitet. Hier endlich findet er das „wahre Gesicht des Gesangs“ wieder und der Sonnenball brennt in seinem Herzen. Das Licht, dieses Gleisen, wird hier zur Chiffre für den Schmerz in der Kunst, für den Schrei im Gesang. Später werden die Geschwister im Schatten eines Kranichs so etwas wie Frieden finden. Man kann eine Gesellschaft an den Rändern der jeweiligen Lichtordnungen untersuchen. Genau das hat Michel Foucault getan. Man versteht die Widerstände. Man versteht die Zensur. Aber ist es allein das? - In einem altkoreanischen Märchen, das Yi nacherzählt hat, ist die Tochter eines Blinden bereit zu sterben, damit ihrem Vater das Augenlicht wieder geschenkt wird. Als Leser zwischen seine beiden Kondensatorplatten gespannt beginnt man sich im Lauf der Yi-Lektüre zu fragen, ob sein Thema nicht das sehr koreanische Thema des Opfers ist: die äußerste Hingabe als ethische Herausforderung und Bedingung der Kunst. Gewandelter Schmerz. Ein Buch also über den Preis der Kunst in den Lichtordnungen.
Martin Wolf
Vom selben Autor sind ebenfalls bei Peperkorn erschienen:
Der doppelte Ong. Altkoreanische Volksdichtung
Nolbu hat viele Lehrer. Altkoreanische Volksdichtung
S'im Chong hat gute Beziehungen. Altkoreanische Volksdichtung
Siehe im selben Verlag auch:
P'ansori - die gesungenen Romane Koreas
Edition Peperkorn im Internet
Erschienen in »Literaturnachrichten«
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Text & Bild: Martin Wolf
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